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- Aufenthaltsbestimmungsrecht bei Umzug eines Elternteils
Aufenthaltsbestimmungsrecht bei Umzug eines Elternteils
Der Antrag auf Aufenthaltsbestimmungsrecht beim Umzug eines Elternteils führt zu einem rechtlich wie tatsächlich oft schwierigen Verfahren. Gerade der Umzug des betreuenden Elternteils birgt das Risiko, dass die Kinder zum andern Elternteil wechseln. Hier braucht es eine gute Verfahrensstrategie. Unsere Rechtsanwältin Frau Kracke hat den Antrag auf Aufenthaltsbestimmungsrecht wegen Umzug in einem Verfahren vor dem Amtsgericht Göttingen erfolgreich für die Kindesmutter durchgefochten. Dabei wurde auch ein inhaltlich realitätsferner Antrag auf ein Wechselmodell abgewehrt.
Rechtliche Ausgangslage: Umzug und Aufenthaltsbestimmungsrecht
Will nach der Trennung bzw. Scheidung der Elternteil umziehen, welcher die Kinder betreut, so kommt es häufig zum Streit darüber. Nachvollziehbar ist, dass der andere Elternteil nicht will, dass die Kinder weit weg sind. Die Sorge vor dem Verlust von Umgang und Kontakt zum Kind ist groß. Gleichzeitig gibt es nachvollziehbare und relevante Gründe für einen Umzug.
Vor Gericht kommt es beim Antrag auf Aufenthaltsbestimmungsrecht aber nicht darauf an, welche Gründe es für den Umzug gibt. Relevant für die Entscheidung über den Antrag auf Aufenthaltsbestimmungsrecht ist allein, ob die Situation mit dem umziehenden Elternteil am neuen Wohnort, oder die Situation beim anderen Elternteil an dessen Wohnort besser ist. Das Gericht hat keine Handhabe einen Elternteil dazu zu zwingen an einem Wohnort zu bleiben. Dies beruht auf der sogenannten Mexiko-Entscheidung des BGH (BGH, Beschluss vom 28.04.2010 – XII ZB 81/09). Leider wird das in der Praxis der Familiengerichte oft ignoriert, wir erleben immer wieder, dass Mütter und Väter sich hochnotpeinlichen Befragungen zu unterziehen haben, warum sie denn umziehen wollen. Dies können wir ans Anwälte für Familienrecht aber verhindern, indem wir das Gericht auf die rechtlich relevante Frage zurück lenken.
Die Gründe für den Umzug spielen bei einem Antrag auf Aufenthaltsbestimmungsrecht nur dann eine Rolle, wenn sich sehr deutlich ergibt, dass der einzige, oder jedenfalls vorrangige, Zweck eines Umzuges die Entfremdung der Kinder vom anderen Elternteil ist. In solchen Fällen gibt es aber neben einem Umzug meist erhebliche weitere Anzeichen für solche Tendenzen.
Soweit es überhaupt keine Probleme beim Umgang gab und gibt und auch ein Umgang nach dem Umzug offensichtlich gesichert ist, ist die Motivation des umziehenden Elternteils im Gerichtssaal egal.
Umzug ohne Antrag auf Aufenthaltsbestimmungsrecht?
An dieser Stelle warnen wir sehr deutlich vor einem Umzug ohne Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Leider wird dies von einigen Kollegen unter dem Motto Fakten schaffen immer noch geraten. Wer aber einfach umzieht, und so „Fakten schafft“ riskiert, dass die Kinder im einstweiligen Verfahren auf Aufenthaltsbestimmungsrecht dem anderen Elternteil zugesprochen werden.
Ausgangslage des Falles: Betreuung durch Mutter
Im vorliegenden Fall wurden die drei Kinder schon immer deutlich vorrangig durch die Mutter betreut. Dies hatte auch Gründe in der Gesundheit und Situation des Kindesvaters. Aufgrund familiärer und beruflicher Gründe wollte die Kindesmutter an die Nordseeküste umziehen. Auch am neuen Wohnort und über die Entfernung war der Umgang des Kindesvaters gesichert. Im Verfahren wurde zunächst diskutiert, warum die Kindesmutter umziehen wollte. Diese Diskussion konnte Frau Rechtsanwältin Kracke jedoch beenden, da sie rechtlich ohne Belang war.
Das Gericht holte im Verfahren ein familienpsychologisches Gutachten ein. Durch dieses Gutachten wurde die Mutter durch uns engmaschig begleitet. Im Ergebnis erbrachte das Gutachten dann eine den Gegebenheiten entsprechende Beurteilung. Entscheidend waren letztendlich die enge Bindung an die Mutter, die Erziehungsfähigkeit der Mutter, die Kontinuität der Beziehung und der Kindeswille.
Mit der Wirksamkeit des Beschlusses konnte die Mutter dann mit den Kindern umziehen.
Der im Verfahren auch gestellte und aufgrund der gesundheitlichen Lage des Vaters wohl realitätsferne Antrag auf die Einrichtung eines Wechselmodelles wurde abgelehnt. Tatsächlich war die Motivation dieses Antrages wohl auch, die Mutter über den Umweg eines gerichtlich angeordneten Wechselmodells zum Bleiben zu zwingen. Diese Strategie konnte aber schon aus rechtlichen Gründen nicht funktionieren.
Bei Fragen zu Sorgerecht, Aufenthaltsbestimmungsrecht und Umzug buchen Sie gerne eine Erstberatung bei uns.
*Entscheidung zum Antrag auf Aufenthaltsbestimmungsrecht (AG Göttingen)
Amtsgericht Göttingen
Beschluss
In der Kindschaftssache
betreffend die elterliche Sorge
Beteiligte:
1. Kind 1
2. Kind 2
3. Kind 3
…
hat das Amtsgericht – Familiengericht – Göttingen am 12.07.2022 beschlossen:
Der Mutter wird das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder zur alleinigen Ausübung zu übertragen
Der Antrag des Vaters wird zurückgewiesen.
Die Gerichtskosten tragen die Eltern jeweils zur Hälfte. Seine außergerichtlichen Auslagen trägt jeder Beteiligte selbst.
Der Verfahrenswert wird auf 4.000 € festgesetzt.
Sachverhalt:
Ausgangspunkt
I.
Die Antragstellerin (im folgenden Mutter) und der Antragsgegner (im folgenden Vater) sind die getrennt lebenden Eltern der drei Kinder. Sie üben die elterliche Sorge gemeinsam aus, weil die Kinder aus ihrer Ehe hervorgegangen sind.
Die räumliche Trennung der Eltern erfolgte am 31.12.2020. Der Vater zog aus der ehelichen Wohnung aus, während die Mutter dort mit den Kindern wohnen blieb. Der Umgang wurde im Wege eines im Rahmen der gerichtsnahen Mediation geschlossenen Vergleichs vom 26.03.2021 derart geregelt, dass die Kinder 14-tägig von Donnerstag bis Montag und wöchentlich Donnerstagnachmittag mit dem Vater Umgang haben. Das älteste Kind besucht in Göttingen die Grundschule, das zweitälteste Kind hat in Göttingen einen Kindergartenplatz bis 13.30 Uhr. Das jüngste Kind wird bislang von der Mutter betreut und zum Kindergartenjahr 2022/23 in den Kindergarten wechseln.
Die Mutter beabsichtigt, mit den Kindern nach Schleswig-Holstein umzuziehen, um den Hof ihres Schwiegervaters zu übernehmen. Der Vater lehnt den Umzug der Kinder ab. Er möchte, dass die Kinder in Göttingen bleiben und in seinen Haushalt wechseln.
Situation der Mutter
Die Mutter ist promovierte Biologin mit der Fachrichtung biologische Diversität und Ökologie. Während ihrer Doktorarbeit war sie wegen psychischer Probleme in Form von Essstörungen, Angststörungen und Depressionen zeitweise in ambulanter und stationärer psychotherapeutischer Behandlung. Nach der Geburt des ersten Kindes hat sich die Mutter überwiegend der Kinderbetreuung gewidmet und beruflich nur befristete Arbeitsverträge in Teilzeit ausgeübt. Nach der Geburt des zweiten Kindes war sie nur noch in einem Umfang von 10 Wochenarbeitsstunden berufstätig. Seit dem Auslaufen ihres Arbeitsvertrages im August 2021 ist die Mutter ohne Arbeitsanstellung. Sie sieht ihre berufliche Zukunft in dem Betrieb des Bauernhofes mit ökologischer Landwirtschaft und der Vermietung von Ferienwohnungen mit umweltpädagogischen Angeboten für Gäste (Ferienhofbetrieb). Bereits während der intakten Ehe der Eltern war die evtl. Übernahme des Hofs in Schleswig-Holstein Gegenstand von Überlegungen gewesen.
Situation des Vaters
Der Vater ist promovierter Politik- und Verwaltungswissenschaftlicher und bei der Deutschen Bundesbank angestellt. Er hat nach der Geburt der ersten beiden Kinder die wirtschaftliche Grundlage der Familie sichergestellt und war überwiegend in einem Umfang von ca. 35 Wochenstunden berufstätig. Der Vater hat einen Homeoffice-geeigneten Arbeitsvertrag mit Vertrauenszeit. Nach der Geburt des dritten Kindes arbeitete er 2 – 3 Tage in der Woche in Frankfurt und den Rest im Homeoffice. Von Januar bis März 2020 musste sich der Vater wegen einer rezidivierenden depressiven Störung einer stationären psychosomatischen Behandlung unterziehen. Nach der Entlassung begann der Vater eine ambulante Psychotherapie, die bis heute fortdauert. Bei Einleitung des Verfahrens arbeitete der Vater in einem Umfang von 36 Wochenstunden und reduzierte im Dezember 2021 auf 30 Wochenstunden. Er hat von seiner Dienststelle die Zusage, dass er wegen der Kinderbetreuung bei Bedarf seine Arbeitszeit weiter auf 20 – 25 Stunden reduzieren kann.
Streitiger Vortrag und Antrag der Mutter
Die Mutter trägt vor, dass sie im Raum Göttingen kaum Chancen auf eine unbefristete Anstellung als promovierte Biologin habe, da ihr Fachgebiet nicht gefragt sei. Sie sieht ihre berufliche Perspektive in der Übernahme des Hofes ihres Stiefvaters.
Die Mutter beantragt,
unter Aufhebung des gemeinsamen Aufenthaltsbestimmungsrechtes der Kindereltern der Kindesmutter die elterliche Sorge in dem Teilbereich der Aufenthaltsbestimmung für die gemeinsamen Kinder zur alleinigen Ausübung zu übertragen.
Antrag und streitiger Vortrag des Vaters
Der Vater beantragt,
unter Zurückweisung des Antrags der Mutter ihm das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die minderjähren Kinder zu übertragen
Der Vater trägt vor, dass er die Betreuung der Kinder in Göttingen auch nach dem Umzug der Mutter alleine gewährleisten könne. Er habe auch während des Zusammenlebens der Eltern einen ganz erheblichen Betreuungsaufwand geleistet. Er behauptet, dass die Mutter durchaus Chancen habe, mit ihrem Abschluss eine Anstellung im Bereich Göttingen zu finden. Die Mutter habe aber keine ausreichenden Bewerbungsbemühungen angestellt. Er ist zudem der Ansicht, dass der Mutter eine ausreichende Bindungstoleranz fehle, da sie ihrem beruflichen Fortkommen den Vorrang vor den wohlverstandenen Interessen der Kinder gebe. Ziel der Mutter sei eigentlich, den Vater aus dem Leben der Kinder zu drängen.
Ablauf des Verfahrens
Das Gericht hat den Kindern eine Verfahrensbeiständin bestellt und Anhörungen mit den Beteiligten am 09.11.2021 und am 05.07.2022 durchgeführt. Wegen des Ergebnisses der Anhörungen wird Bezug genommen auf die Protokolle vom 09.11.2021 und 05.07.2022. Die beiden älteren Kinder wurden am 25.10.2021 richterlich angehört, das jüngste Kind am 14.03.2022. Des Weiteren hat das Gericht ein familienpsychologisches Gutachten durch eine Sachverständige eingeholt. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf das schriftliche Gutachten vom 20.06.2022 und die mündliche Erläuterung des Gutachtens am 05.07.2022.
Rechtliche Würdigung:
II.
Der Antrag der Mutter ist begründet. Die elterliche Sorge für den Teilbereich „Aufenthaltsbestimmung“ für die Kinder ist der Mutter auf ihren Antrag zur alleinigen Ausübung gemäß § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB zu übertragen, da die Aufhebung der gemeinsamen Sorge der getrenntlebenden Eltern für den Bereich der Aufenthaltsbestimmung und die Übertragung dieses Teilbereichs der elterlichen Sorge auf die Mutter dem Kindeswohl am besten entspricht.
Aufhebung des gemeinsamen Aufenthaltsbestimmungsrechts
Die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge für den Teilbereich der Aufenthaltsbestimmung erscheint nach dem festgestellten Sachverhalt aus Gründen des Kindeswohls geboten, da die Eltern völlig entgegensetzte Ansichten dazu entwickelt haben, wo und bei welchem Elternteil die Kinder ihren weiteren Lebensmittelpunkt haben sollen. Während die Mutter mit den Kindern nach Schleswig-Holstein umziehen möchte, ist es der Wille des Vaters, dass die Kinder ihren Lebensmittelpunkt, wie bisher, in Göttingen haben. Die Ansichten der Eltern erscheinen aufgrund der persönlichen Anhörungen sehr verfestigt, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass in der Zukunft wieder eine gemeinsame Position in dieser Frage möglich sein wird. Zum Wohl der Kinder muss Klarheit darüber geschaffen werden, in welchem elterlichen Haushalt und an welchem Ort ihr Lebensmittelpunkt zukünftig sein wird, was aufgrund des nunmehr hohen Konfliktniveaus der Eltern nur durch eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes auf einen Elternteil ermöglicht werden kann
Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts an die Mutter
Nach der Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge entspricht die Übertragung der elterlichen Sorge im Bereich „Aufenthaltsbestimmung“ auf die Mutter dem Kindeswohl am besten, da die Intensität und Qualität der Bindungen zwischen der Mutter und den Kindern als sehr hoch anzusehen sind, die Erziehungsfähigkeit der Mutter insbesondere in den Bereichen Feinfühligkeit und emotionale Verfügbarkeit besser zu bewerten ist als diejenige des Vaters, die Mutter die Kontinuität der Betreuungs- und Erziehungsverhältnisse eher gewährleisten kann und der Verbleib bei der Mutter dem Kindeswillen der beiden älteren Kinder entspricht.
Feststellungen des Gutachtens
Nach den Feststellungen der Sachverständigen besteht zwischen den Kindern und der Mutter eine sehr enge und sichere Bindung. Die Mutter sei für alle drei Kinder die primäre Bezugsperson. Die Auswertungen der Interaktionsbeobachtungen hätten für alle Kinder sichere Bindungsmerkmale im Verhältnis zu der Mutter aufgezeigt. Im Gegensatz hierzu sei die Beziehung der Kinder zu dem Vater deutlich ambivalenter und es seien Anzeichen für eine unsichere Bindung vorhanden. Das älteste Kind habe bei der Interaktionsbeobachtung mit dem Vater sowohl ein oppositionelles als auch ein vermeidendes Verhalten gezeigt. Das Verhalten des zweitältesten Kindes gegenüber seinem Vater habe auf inkonsistente Fürsorgeerfahrungen hingedeutet, da sein Verhalten einen Wechsel von Anhänglichkeit und Widerstand gezeigt und er zudem stetig die Aufmerksamkeit des Vaters eingefordert habe. Bei dem jüngsten Kind sei zu beobachten gewesen, dass dieses gegenüber dem Vater zunächst auf sichere Bindungsrepräsentationen habe zurückgreifen können, bei erlebter Zurückweisung oder unsensiblem Verhalten des Vaters im Rahmen der Interaktion aber zunehmend vermeidende Bindungsstrategien ausgebildet habe.
Des Weiteren ist die Sachverständige in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, dass die Erziehungsfähigkeit des Vaters gegenüber derjenigen der Mutter in den Bereichen Feinfühligkeit und emotionale Verfügbarkeit deutlich eingeschränkt sei. Während die Mutter überdurchschnittlich präsent und an den Bedürfnissen der Kinder orientiert sei, sei bei dem Vater in der Interaktion mit den Kindern eine partiell eingeschränkte Feinfühligkeit deutlich geworden. Er habe sowohl die kindlichen Bedürfnisse nicht hinreichend wahrgenommen als auch eigene Bedürfnisse vorrangig befriedigt. Es habe sich in Bezug auf alle drei Kinder zeitweilig eine eingeschränkte Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive der Kinder gezeigt sowie ein deutliches Bestreben, eigene Grenzen zu schützen.
Demgegenüber hat die Sachverständige bei der Mutter keine signifikanten Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit feststellen können. Zwar spreche der von der Mutter geplante Umzug an sich für eine Einschränkung der Bindungsfürsorge. Allerdings habe die Sachverständige darüber hinaus keine relevante Einschränkung bei der Bindungstoleranz der Mutter ermitteln können. Während man unter Bindungstoleranz die Akzeptanz und aktive Förderung der emotionalen Beziehungen des Kindes zu bedeutsamen Bezugspersonen versteht, ist die Bindungsfürsorge ein „Mehr“ gegenüber der Bindungstoleranz und fordert von dem betreuenden Elternteil ein proaktives Handeln, d.h. ein zielgerichtetes und vorausschauendes Handeln zur Unterstützung der emotionalen Beziehungen der Kinder. Die Sachverständige stützt ihre Schlussfolgerung, wonach die Mutter keine Einschränkungen bei der Bindungstoleranz aufweise, darauf, dass die Mutter den Vater als bedeutsame Bezugsperson für die beiden jüngeren Kinder ansieht und den Kontakt der Kinder zum Vater unterstützt. Die von der Mutter präferierte langsame Ausweitung der Kontakte zwischen dem Vater und dem jüngsten Kind nach der Trennung der Eltern sei nicht als Einschränkung der Bindungstoleranz zu werten, sondern sei in der Orientierung der Mutter an den kindlichen Bedürfnissen und der Sorge vor Überforderung beim Kindesvater begründet. Die Sachverständige hat ausgeführt, dass sie aufgrund der belasteten Beziehung zwischen dem ältesten Kind und dem Vater das Bestehen eines Loyalitätskonfliktes dieses Kindes kritisch hinterfragt habe, was die uneingeschränkte Bindungstoleranz der Mutter hätte in Frage stellen können. Letztlich sei sie aber zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Situation eher durch die Vater-Tochter-Beziehungserfahrungen und die enge Mutter-Tochter-Beziehung entstanden sei. Zur Begründung hat die Sachverständige ausgeführt, dass das Mädchen eine differenzierte Betrachtung der Lage hätte vornehmen können und selbst klargestellt habe, dass sie gerne alleine Zeit mit dem Vater verbringen wolle.
Auswirkungen des Kontinuitätsgrundsatzes
Für die Übertragung der elterlichen Sorge auf die Mutter spricht zudem der Kontinuitätsgrundsatz. Es ist anerkannt, dass sich eine Kontinuität seiner Lebensverhältnisse im Allgemeinen positiv auf das Wohl eines Kindes auswirkt. Deswegen entspricht es grundsätzlich dem Kindeswohl am meisten, dem Elternteil die Sorge zu übertragen, der die Kontinuität der Lebensverhältnisse gewährleisten kann. Dem Kontinuitätsprinzip kommt vor allem dann ausschlaggebende Bedeutung zu, wenn beide Eltern gleichermaßen erziehungswillig und -geeignet, die Bindungen des Kindes zu beiden Elternteilen gleich gut und intensiv sind und auch sonst keine Präferenzen zum Lebenskreis eines Elternteils bestehen (u.a. OLG Hamm, FamRZ 2009, 1757). Das Kontinuitätsinteresse des Kindes verlangt eine gewisse Stabilität bezüglich der Person, die es umsorgt, und seines sozialen Umfelds (Kindergarten, Schule usw.) (BGH FamRZ 1990, 392). Hierbei ist vor allem bei kleineren Kindern die Kontinuität der personalen Beziehungen wichtiger als die örtliche und soziale Kontinuität (u.a. OLG Köln FamRZ 2013, 554). Angesichts des noch jungen Alters der Kinder, insbesondere was das jüngste Kind anbetrifft, entspricht dem Kindeswohl daher die Sorgerechtsregelung am besten, die gewährleistet, dass die vertrauten Betreuungs- und Erziehungsverhältnisse fortgesetzt werden und sie weiterhin von ihrer vornehmlichen Bezugsperson betreut werden. Aus Sicht der Sachverständigen ist die Mutter als primäre Bezugsperson aller 3 Kinder anzusehen, an welche sich die Kinder bei Belastung und Verunsicherung wenden würden. Aufgrund der in der Ehe gelebten Rollenteilung hat die Mutter nach der Geburt der Kinder ihr berufliches Fortkommen zurückgestellt und vorrangig die Betreuung und Erziehung der Kinder übernommen. Dementsprechend sieht die Sachverständige die Betreuungskontinuität dann als gewährleistet an, wenn die Kinder ihren Lebensmittelpunkt im Haushalt der Mutter haben. Die Aspekte der sozialen und räumlichen Kontinuität sind hingegen in der vorliegenden Familienkonstellation gegenüber der Beibehaltung der Betreuungs- und Erziehungsverhältnisse von nur nachrangiger Bedeutung. Gerade für die älteste Tochter, die aufgrund ihres Alters durch den Abbruch sozialer Kontakte und den Schulwechsel am stärksten von einer Veränderung der sozialen und räumlichen Kontinuität betroffen wäre, spielt dieser Umstand aufgrund ihrer sehr engen Beziehung zu der Mutter keine ausschlaggebende Bedeutung.
Kindeswille
Schließlich spricht auch der Kindeswille der beiden älteren Geschwister für eine weitere Betreuung der Kinder im Haushalt der Mutter. Ein familienpsychologisch relevanter Kindeswille muss zielorientiert, autonom gebildet und von gewisser Intensität sein sowie von dem Kind stabil geäußert werden. Die beiden Kinder haben im Verlauf des Verfahrens und der Begutachtung wiederholt den Willen geäußert, weiterhin bei der Mutter leben und mit dieser nach Schleswig-Holstein ziehen zu wollen. Die Sachverständige ist im Hinblick auf die Angaben der Kinder zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei beiden um die Äußerung eines relevanten Kinderwillens handelt und die o.g. Kriterien erfüllt sind. Insbesondere hat die Sachverständige auch die Autonomie der Willensbildung für gegeben erachtet, da sie von Seiten der Mutter keine direkte oder indirekte Induzierung habe beobachten können.
Verwertbarkeit des Gutachtens
Das Gericht hält das Gutachten der Sachverständigen und dessen mündliche Erläuterungen und Ergänzungen ohne Einschränkungen für verwertbar und tritt dem Ergebnis der Begutachtung bei. Die Vorgehensweise der Sachverständigen sowie das vorgelegte schriftliche Gutachten entsprechen allen fachlichen Standards und die Schlussfolgerungen sind überzeugend und nachvollziehbar begründet worden. Weder formale noch inhaltliche Mängel sind für das Gericht ersichtlich. Insbesondere hat die Sachverständige eine sehr umfangreiche Befunderhebung durchgeführt und die von ihr getroffenen Schlussfolgerungen werden durchgehend plausibel mit den Ergebnissen der Befunderhebung begründet. Die im Gutachten wiedergegebenen Interaktionsbeobachtungen der Eltern mit ihren Kindern belegen auch aus fachfremder Sicht die Ergebnisse des Gutachtens zu der Ausgestaltung der Bindungs- und Beziehungsverhältnisse sowie der Einschätzung der Erziehungsfähigkeit der Eltern.
Der Vater wendet zwar gegen das Gutachten ein, dass die Sachverständige den sachlichen Hinweisen des Vaters für eine bewusste Entfremdung der Kinder durch die Mutter und die mangelnde Bindungstoleranz der Mutter nicht hinreichend nachgegangen sei. Dieses Vorbringen rechtfertigt aus Sicht des Gerichtes jedoch keine Zweifel an der wissenschaftlichen Begründung und der Schlüssigkeit der Feststellungen der Sachverständigen zu der Bindungstoleranz der Mutter. Grundsätzlich steht es zunächst im Ermessen des jeweiligen Sachverständigen, die für die Beantwortung der Beweisfragen nötigen Befunde zu erheben und zusammenzustellen. Inwieweit hier Versäumnisse erfolgt sein sollen, ist aufgrund des Schriftsatzes der Vertreterin des Kindesvaters vom 11.07.2022 nicht deutlich geworden. Aus Sicht des Gerichtes hat die Sachverständige nachvollziehbar dargelegt, dass sie die Bindungstoleranz der Mutter vor allem deshalb nicht als eingeschränkt erachtet habe, weil die Mutter sich sehr an den Bedürfnissen der Kinder orientiere und möchte, dass es den Kindern gut geht, sowie den Vater als bedeutsame Bezugsperson anerkennt. Hinsichtlich des Verhaltens der Mutter im Zusammenhang mit der Umgangsregelung nach Auszug des Vaters hat die Sachverständige bei der mündlichen Erläuterung des Gutachtens zudem klar herausgestellt, dass ihrer Einschätzung nach der Wunsch der Mutter in Bezug auf eine sukzessive Ausweitung des Umgangs des Vaters mit den Kindern nicht auf einer Abwertung des Vaters beruht habe, sondern vor allem auf der Sorge der Mutter vor einer Überforderung der Kinder. Diese Schlussfolgerung der Sachverständigen steht aus Sicht des Gerichtes durchaus in logischem Zusammenhang mit den von ihr erhobenen Befunden durch die Angaben der Eltern, der Kinder und der Interaktionsbeobachtungen. Zudem sprechen auch die übrigen zur Verfügung stehenden Erkenntnisse nicht gegen die Feststellungen der Sachverständigen zu der Bindungstoleranz der Mutter. Für das Gericht ergeben sich keinerlei belastbare Hinweise darauf, dass der Umzug der Mutter nur zu dem Zweck erfolgt sein könnte, um die Beziehungsgestaltung des Vaters mit den Kindern zu erschweren oder zu vereiteln. Hierfür spricht zunächst der Umstand, dass es unstreitig bereits während des Zusammenlebens der Eltern Überlegungen für eine Hofübernahme durch die Mutter gegeben hatte. Des Weiteren ist auch der Vortrag der Mutter, dass der Umzug darauf beruhe, dass sie keine ausreichenden beruflichen Perspektiven im Raum Göttingen habe, plausibel. Dem Gericht ist aus anderen Verfahren und auch aus dem privaten Umfeld bekannt, dass für Biologen der Einstieg in den Arbeitsmarkt schwierig ist, wenn diese sich während des Studiums nicht in einem gefragten Fachgebiet wie Mikrobiologie spezialisiert haben. Diese schwierige Situation für Biologen gilt insbesondere im Bereich Göttingen, in dem auf wenige ausgeschriebene Stellen auf dem Arbeitsmarkt durch die Universität vor Ort extrem viele Bewerber kommen. Dies wird auch durch die von dem Vater vorgelegten Stellenanzeigen nicht widerlegt. Bei diesen Stellenangeboten handelt es sich nahezu vollständig um Vollzeitstellen, die die Mutter aufgrund der Kinderbetreuung nicht annehmen kann. Dies gilt insbesondere für ausgeschriebene Stellen als Pharmareferenten oder im Außendienst, die zudem auch noch mit großer Reisetätigkeit verbunden sind. Das Fachgebiet der Mutter ist mit den Stellenausschreibungen zudem kaum kompatibel oder Biologen stehen in Konkurrenz mit anderen Naturwissenschaftlern wie Chemikern. Bei Bewerbungen wird es der Mutter zudem in der Praxis auf dem Arbeitsmarkt immer noch eher zum Nachteil gereichen, dass diese 3 Kinder, davon 2 Kinder im Vorschulalter, zu betreuen hat. Hiervor schrecken viele Arbeitgeber zurück. Nach all dem hält das Gericht die Angaben der Mutter zu ihrer mangelnden Vermittelbarkeit als Biologin in Teilzeit im Raum Göttingen nicht für vorgeschoben.
Soweit der Vater einwendet, die Gutachterin habe die ambivalente Bindung der Kinder zu ihm ungeprüft auf seine angebliche emotionale Instabilität zurückgeführt, so wird dieses Vorbringen dem Gutachten nicht gerecht. Die Sachverständige hat gerade ihre Feststellungen zu dem ambivalenten Verhältnis der Kinder zu dem Vater ausführlich aus ihren Beobachtungen aus den Interaktionen des Vaters mit den Kindern hergeleitet. Auch das Vorbringen, die Sachverständige habe die mehr als 1,5 Jahre zurückliegende Erkrankung des Vaters als Beleg für heutiges Belastungserleben herangezogen, findet sich aus Sicht des Gerichtes in dem Gutachten so nicht wieder. Die Sachverständige hat lediglich ausgeführt, dass bei der Interaktionsbeobachtung punktuelle Überforderungsanzeichen des Vaters deutlich geworden seien und diese Annahme mit den entsprechenden Stellen der Interaktionsbeobachtungen belegt. Der aus diesen Beobachtungen gezogene Schluss auf eine noch bestehende Vulnerabilität des Vaters steht nicht im Widerspruch zu der Annahme der Sachverständigen, dass der Vater derzeit als ausreichend stabil anzusehen sei. Auch der Vorwurf, dass Gutachten sei einseitig verfasst worden, wodurch sich der Vater gegen die Unparteilichkeit der Sachverständigen wendet, entbehrt aus Sicht des Gerichtes jeder Grundlage. Soweit der Vater vorbringt, die Gutachterin hätte ungeprüft Angaben der Mutter als Wahrheit angenommen, trifft dies aus Sicht des Gerichtes nicht zu. Die beanstandete Behauptung, der Vater hätte vor den Kindern über das Jugendamt gesprochen, findet sich auf den Seiten 10 bis 33 des Gutachtens, auf denen die Sachverständige die Angaben der Mutter aufgeführt hat, nicht wieder. Soweit die Sachverständige auf Seite 31 des Gutachtens ausführt, dass die Mutter im Hinblick auf Probleme bei der Kommunikation mit dem Vater berichtet habe, dass Anouk schon einmal am Montag mit 39 Grad Fieber vom Vater gekommen sei, ist dies nicht zu beanstanden, da die Sachverständige dies als Angabe der Mutter kenntlich gemacht hat. Da die Mutter selber eingeräumt hatte, dass der Vater dies ggfs. nicht bemerkt haben könnte, bestand auch keine zwingende Veranlassung der Sachverständigen, den Vater mit diesen Angaben zu konfrontieren. Die Sachverständige hat diesen Vorfall zudem auch nicht als wesentliche Grundlage ihrer Bewertungen zur Erziehungsfähigkeit des Vaters gemacht.
Zusammenfassung
Zusammenfassend ist festzustellen, dass in der Gesamtabwägung der Nachteile für die Kinder, die durch einen Umzug mit der Mutter nach Schleswig-Holstein entstehen, mit denen, die durch einen Umzug der Kinder zum Vater eintreten würden, aufgrund der vorgenannten Kindeswohlkriterien hier die Nachteile für die Kinder bei einem Umzug zum Vater überwiegen. Durch den Umzug der Kinder mit der Mutter wären die Besuchskontakte mit dem Vater deutlich erschwert, was auf längere Sicht die Beziehung der Kinder zu dem Vater ungünstig beeinflussen könnte. Bei einem Umzug der Kinder zu dem Vater würden die Kinder aber die Mutter als ihre primäre Bezugs- und Betreuungsperson verlieren und zu dieser nur noch Besuchskontakte wahrnehmen können, ihr geäußerter Kindeswille würde ignoriert und die zuverlässige Wahrnehmung und Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse wäre selbst bei Annahme einer weiteren ausreichenden psychischen Stabilität des Vaters und dem Ausbleiben einer Überforderungssituation nicht gewährleistet. Damit würden sich durch einen Umzug der Kinder zu dem Vater deutlich höhere Risiken für das Selbstwirksamkeitserleben der Kinder und ihre emotionale Stabilität ergeben als bei einem Umzug der Kinder mit der Mutter.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus den §§ 80, 81 FamFG.
Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf § 45 FamGKG.
Bleckmann
Richterin am Amtsgericht